• Rechtsgebiet:
  • Versicherungsrecht

VVG-Reform

27.05.2011

Ihr zuständiger Rechtsanwalt

Michael Prettl LL.M.
Fachanwalt für Versicherungsrecht

Rechtsanwalt Michael Prettl Versicherungsrecht
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von Fachanwalt für Versicherungsrecht Michael Prettl LL.M.

Allgemeiner Teil

Einführung

Das Versicherungsvertragsgesetz (VVG), das die wichtigste Rechtsquelle des Privatversicherungsrechts ist, stammt von 1908. Zum 01.01.2008 soll ein neues VVG in Kraft treten, welches bisher als Regierungsentwurf vom 11.10.2006 vorliegt (VVG-E).

In einigen Bereichen bestand seit längerer Zeit das Bedürfnis von Neuregelungen, um den Entwicklungen des Versicherungsmarktes und der Rechtspolitik gerecht zu werden. Dazu gehört nach dem Verständnis der beiden mit der Reform befassten Regierungskoalitionen insbesondere der Verbraucherschutz.

Wichtige Institute des Versicherungsrechts sind in höchstrichterlicher Rechtsprechung entstanden und sollen durch das neue VVG teilweise kodifiziert werden. Daneben verschwinden Sonderregelungen aus dem VVG, die in der Gegenwart nur noch geringe Bedeutung haben; dies betrifft etwa die Hagelversicherung und die Tierversicherung. Die tiefgreifenden Änderungen durch den Regierungsentwurf haben eine Neunummerierung des alten VVG zur Folge.

Aufgabe des Alles-oder-Nichts-Prinzips: Quotelung

Im bisherigen VVG werden die Rechtsfolgen der Verletzung von Obliegenheiten oder Pflichten durch den Versicherungsnehmer nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip geregelt. Dabei entsteht eine strikte Grenze zwischen einfach fahrlässigem und grob fahrlässigem Verhalten des Versicherungsnehmers. Während bei einfacher Fahrlässigkeit volle Versicherungsdeckung besteht, wird der Versicherer schon bei grober Fahrlässigkeit vollständig von der Leistung frei.

Weil die Trennung zwischen einfacher und grober Fahrlässigkeit im konkreten Einzelfall selten so eindeutig ist wie die daran geknüpfte Rechtsfolge, war das Alles-oder-Nichts-Prinzip Gegenstand ausufernder konkretisierender und auch korrigierender Rechtsprechung. Die sog. Relevanzrechtsprechung hatte mit den Grundsätzen von Treu und Glauben und der Verhältnismäßigkeit eine differenzierende, zugleich aber teilweise unübersichtliche Regelung der Rechtsfolgen von Obliegenheitsverletzungen geschaffen.

Die neue Systematik der Rechtsfolgen von Obliegenheitsverletzungen durch den Versicherungsnehmer findet sich in § 28 VVG-E: Arglistiges Verhalten des Versicherungsnehmers führt zur Leistungsfreiheit des Versicherers selbst dann, wenn das Verhalten für den Versicherungsfall nicht kausal war (§ 28 Abs. 3 Satz 2 VVG-E). Bei vorsätzlichem Verhalten des Versicherungsnehmers ist die Leistungsfreiheit an das Erfordernis der Kausalität der Obliegenheitsverletzung für den Eintritt des Versicherungsfalles oder den Umfang der Leistungspflicht geknüpft.

Neu ist die Quotelungsmöglichkeit nach § 28 Abs. 2 Satz 2 bei grober Fahrlässigkeit. An Stelle vollständiger Leistungsfreiheit kann der Versicherer die Leistung nach der Schwere des Verschuldens des Versicherungsnehmers kürzen. Dies entspricht dem Rechtsgedanken des § 254 BGB (Stichwort: Mitverschulden). Bei einfacher Fahrlässigkeit bleibt der Versicherer dagegen zur vollen Leistung verpflichtet. Die Beweislast für leichtere als grobe Fahrlässigkeit trägt allerdings der Versicherungsnehmer – das Gesetz vermutet bei objektivem Vorliegen einer Obliegenheitsverletzung grob fahrlässiges Verhalten.

Die Relevanzrechtsprechung findet insofern auch Eingang in das VVG, als die vollständige oder teilweise Leistungsfreiheit des Versicherers nur dann gilt, wenn der Versicherer den Versicherungsnehmer im Rahmen seiner nach Eintritt des Versicherungsfalls bestehenden Auskunfts- und Aufklärungsobliegenheit durch gesonderte Mitteilung in Textform auf diese Rechtsfolge hingewiesen hat, § 28 Abs. 4 VVG-E.

Das Prinzip der Quotelung findet sich auch in § 26 VVG-E für die Gefahrerhöhung und in § 81 VVG-E bezüglich des Herbeiführens des Versicherungsfalls durch den Versicherungsnehmer.

Bisher musste der Versicherer gemäß § 6 Abs. 1 Satz 3 innerhalb eines Monats den Versicherungsvertrag kündigen, wenn er sich bei einer Obliegenheitsverletzung des Versicherungsnehmers auf Leistungsfreiheit berufen wollte. Diese Kündigungsobliegenheit, die nicht immer im Sinne des Versicherungsnehmers lag, beispielsweise dann, wenn es sich um eine langjährige Geschäftsbeziehung zum Versicherer und um eine im Einzelfall nur geringe Deckungssumme handelte, ist im VVG-E nicht mehr zu finden.

Im Einzelfall wird es auch nach der neuen Rechtslage großen Spielraum für die konkrete Auslegung geben. Die Grenze zwischen einfacher und grober Fahrlässigkeit bleibt bestehen, auch wenn die scharfe Sanktion der völligen Leistungsfreiheit bei grob fahrlässigem Verhalten der Quotelung nach der Schwere des Verschuldens weichen wird. Man kann sich jedoch leicht vorstellen, dass die Auseinandersetzungen um die genaue Schwere des Verschuldens nicht geringer ausfallen werden als die um die Grenzziehung zwischen einfacher und grober Fahrlässigkeit.

Beratungs-/Dokumentations-/Informationspflichten

Für Versicherungsvermittler normiert der VVG-E in den §§ 59 – 67 umfangreiche vertragsrechtliche Beratungs-, Dokumentations- und Informationspflichten des Versicherungsvermittlers und des Versicherungsmaklers gegenüber dem Versicherungsnehmer. Entscheidend ist, dass gemäß § 63 VVG-E die Verletzung dieser Pflichten einen (verschuldensabhängigen) Schadenersatzanspruch des Versicherungsnehmers zur Folge hat.

Entsprechende Pflichten finden sich für den Versicherer in den §§ 6 und 7 VVG-E.

Der Versicherer hat

  • grundsätzlich den Versicherungsnehmer nach seinen Wünschen und Bedürfnissen zu befragen und entsprechend zu beraten
  • grundsätzlich den erteilten Rat samt Begründung vor Abschluss des Versicherungsvertrags dem Versicherungsnehmer in Textform zu übermitteln
  • grundsätzlich dem Versicherungsnehmer rechtzeitig vor Abgabe von dessen Vertragserklärung seine Vertragsbestimmungen einschließlich der AVB in Textform mitzuteilen.

Insbesondere die letztgenannte Regelung dürfte dafür sorgen, dass das Policen-Modell gemäß § 5a VVG faktisch abgeschafft wird. Nach bisheriger Rechtslage genügt es, wenn dem Versicherungsnehmer die Verbraucherinformationen einschließlich der AVB erst zusammen mit der Versicherungspolice zugesandt werden. Zwar kann der Versicherungsnehmer nach dem VVG-E ausdrücklich auf die Information vor Vertragsschluss verzichten; dies jedoch nur, wenn ihm vorher die Auswirkungen seines Verzichts auf einen eventuellen Schadenersatzanspruch gegen den Versicherer schriftlich mitgeteilt wurden. Was dies in der Praxis bedeutet, muss sich erst zeigen; ein Ende des häufig angewandten Policenmodells erscheint jedoch wahrscheinlich.

Neuregelung der vorvertraglichen Anzeigeobliegenheiten

In §§ 19 bis 22 VVG-E werden die vorvertraglichen Anzeigenpflichten umfassend neu geregelt.

In der Praxis bedeutsam ist dabei etwa, dass gemäß § 19 Abs. 1 VVG-E die Gefahrrelevanz der anzuzeigenden Umstände jetzt Textform und Gefahrerheblichkeit kumulativ erfordert – wonach der Versicherer nicht in Textform fragt, ist also nicht anzeigepflichtig.

Wegen eines Anzeigenpflichtverstoßes kann der Versicherer nach dem VVG-E nur noch dann zurücktreten, wenn der Verstoß vom Versicherungsnehmer grob fahrlässig oder vorsätzlich begangen wurde. Einfache Fahrlässigkeit führt lediglich zu einem Kündigungsrecht des Versicherers. Gemäß § 19 Abs. 4 VVG-E sind Kündigungs- und Rücktrittsrecht jedoch ausgeschlossen, wenn der Versicherer trotz Kenntnis der nicht angezeigten Umstände den Versicherungsvertrag geschlossen hätte und eine Vertragsanpassung statt der Lösung vom Vertrag möglich ist. Gleiches gilt, wenn der Versicherer die nicht oder falsch angezeigten Umstände bei vor Vertragsabschluss kannte.

Nach § 21 III VVG-E erlöschen die Lösungsrechte des Versicherers nach 5 Jahren. Besonders bemerkenswert an der Neuregelung ist, dass selbst bei Vorsatz oder Arglist des Antragsstellers diese Rechte nach 10 Jahren verfallen.

Vorläufige Deckung

Bisher war die vorläufige Deckung im VVG nicht geregelt, obwohl sie in einigen Bereichen, wie beispielsweise bei der Kfz-Haftpflichtversicherung, eine große praktische Bedeutung erlangt hat.

Auf die Informationspflichten nach § 7 VVG-E kann bei der vorläufigen Deckung aus nachvollziehbaren praktischen Gründen verzichtet – dies gilt jedoch nicht für die Beratungs- und Dokumentationspflichten der §§ 6, 61 und 62 VVG-E, vgl. § 49 Abs. 1 VVG-E.

Eine der Neuregelungen bei der vorläufigen Deckung ist die Bestimmung der Prämienhöhe: Gemäß § 50 VVG-E richtet sich die Prämie für den Fall des Nichtzustandekommens des Hauptvertrags nach der Prämie, die bei Zustandekommen des Hauptvertrags unter Beachtung der Laufzeit für letzteren zu zahlen gewesen wäre. Eine abweichende Vereinbarung kann jedoch getroffen werden – die im Verhältnis zur Laufzeit entsprechend erhöhten Verwaltungskosten rechtfertigen und ermöglichen weiterhin die bei der Kfz-Haftpflichtversicherung bekannten Kurzzeittarife.

Widerrufsrecht des Versicherungsnehmers nach § 8 VVG-E

Mit der VVG-Reform entfällt das in § 5a geregelte Widerspruchsrecht des Versicherungsnehmers, welches zumindest begrifflich in der Systematik des Privatrechts ein Fremdkörper war.

Stattdessen wird in § 8 VVG-E das Widerrufsrecht des Versicherungsnehmers festgelegt. Dieser kann grundsätzlich innerhalb der zweiwöchigen Frist den Versicherungsvertrag widerrufen. Die Frist beginnt erst mit Zugang der Informationen gemäß § 7 VVG-E und mit Zugang einer Widerrufserklärung gemäß § 8 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VVG-E.

Bei einem Vertrag mit mehr als einmonatiger Laufzeit muss der Versicherer dem Versicherungsnehmer nach Ausübung des Widerrufsrechts die gezahlte Prämie anteilig zurückerstatten, sofern der Versicherungsfall nicht eingetreten ist.

Sonderkündigungsrecht nach 3 Jahren

Nach § 11 Abs. 4 soll bei Langzeitverträgen ein Sonderkündigungsrecht des Versicherungsnehmers eingeführt werden. Dies gilt dann nicht nur für Verbraucher gemäß § 13 BGB, sondern auch für Unternehmer nach § 14 BGB. So soll dem Schutzbedürfnis auch von Freiberuflern und Kleingewerbetreibenden Rechnung getragen werden. Großrisiken sind jedoch weiterhin von dieser Regelung ausgeschlossen, vgl. § 210 VVG-E.

Verjährung

Die Verjährungsfrist des bisherigen § 2 Abs. 1 VVG von 2 Jahren wird an die dreijährige Regelverjährung des § 195 BGB angepasst. Bedeutsam ist auch, dass die Ausschlussfrist des § 12 Abs. 3 VVG entfällt: Bisher musste der Versicherungsnehmer den Versicherungsanspruch innerhalb von sechs Monaten gerichtlich geltend machen. Ein Verstreichenlassen dieser Frist führte zu einem Erlöschen des Versicherungsanspruchs. Diese Privilegierung des Versicherers soll mit der VVG-Reform ersatzlos entfallen.

Übergangsvorschriften

Das neue VVG wird ab dem 01.01.2008 auf alle ab diesem Zeitpunkt geschlossenen Verträge anzuwenden sein. Vor dem 01.01.2008 geschlossene Verträge werden grundsätzlich erst ab dem 01.01.2009 nach dem neuen VVG behandelt.